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Was im 10. Jahrhundert begann #

Intensive wirtschaftliche und politische Verflechtungen Österreichs mit den östlichen Nachbarländern existierten bereits im Mittelalter. Klaus Lohrmann zeigt in seiner Studie den langwierigen Prozess der Abgrenzung des zukünftigen Österreich von seinem Umfeld. #


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (8. Oktober 2020)

Von

Christian Jostmann


Ausschnitt aus fol. 8v der „Bärenhaut“: König Konrad III., Herzog Leopold von Bayern, Hadmar I. von Kuenring
Stift Zwettl. König Konrad III., Herzog Leopold IV. und Hadmar I. von Kuenring mit dem Kirchenmodell von Stift Zwettl. Bevor die Orden in Österreich Einzug hielten, gab es kaum Institutionen mit schriftlicher Verwaltung, weshalb historische Quellen vor dem 12. Jahrhundert rar sind. Ausschnitt aus fol. 8v der „Bärenhaut“: König Konrad III., Herzog Leopold von Bayern, Hadmar I. von Kuenring
Foto: Name. Aus: Wikicommons, unter PD

Die ungarische Regierung sorgt immer wieder mit europapolitischen Alleingängen für Schlagzeilen, zuletzt mit der einseitigen Schließung der ungarischen Grenzen Anfang September. Auch die Innenpolitik des EU-Mitglieds lässt in anderen Staaten der Union regelmäßig Zweifel aufkommen, ob Justiz und Medien in Ungarn noch dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit genügen. Als im Frühjahr mehr als ein Dutzend europäische Staaten ihre Sorge äußerten, die Gesetzgebung zur Coronavirus- Pandemie könne die Demokratie gefährden, war diese Erklärung vor allem auf Ungarn gemünzt. Dessen Parlament hatte sich zuvor auf unbestimmte Zeit selbst entmachtet. Österreichs Regierung schloss sich der Erklärung damals nicht an – mit dem Verweis auf die Grenze zu Ungarn, um deren willen man lieber auf „direkte Gespräche“ setze.

Hinter der österreichischen Zurückhaltung haben Beobachter vor allem wirtschaftspolitische Rücksichten erkannt, ist Österreich doch auf den ungarischen Exportmarkt und insbesondere auf Arbeitskräfte aus Ungarn angewiesen. Zur Erklärung wurde auch das gepflegte Image des „Brückenbauers“ ins Feld geführt. Österreich ist ja gern gesehener Gast bei den Treffen der Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn.

Folgt man dem Wiener Mittelalterhistoriker Klaus Lohrmann, dann haben die speziellen Beziehungen zwischen Österreich und seinen östlichen Nachbarn eine tausendjährige Geschichte – eine Geschichte, die im späten 10. Jahrhundert begann, als die ostfränkischen Könige am Südostrand ihres Reiches erstmals (wieder) Markgrafen einsetzten. Die Markgrafen hatten in ihrem Bezirk die beiden Kernbereiche mittelalterlicher Politik zu organisieren: Krieg und Gerichtsbarkeit. Darüber hinaus waren sie, um Lohrmann zu zitieren, für „die Ausbildung und Erhaltung einer Weltordnung“ verantwortlich, „die durch Christi Willen vorgegeben war“. Denn ihre Vorgesetzten, die Könige des Ostfrankenreichs, trugen die römische Kaiserkrone. Sie standen an der Spitze eines politischen Verbandes, der am Jüngsten Tag die gesamte Welt umfassen würde. Der universale Auftrag prägte die Beziehungen der Markgrafen zu den Nachbarfürsten der Ungarn, Böhmen und Polen, die sich erst vor Kurzem zum Christentum bekehrt hatten.

Die Markgrafen und ihre Gefolgsleute #

Die heutige EU mit ihren Werten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kann man als säkulare Erbin dieses Universalismus bezeichnen. Von ihren Mitgliedern wird erwartet, dass sie selbige Werte im Innern verwirklichen und nach außen vertreten. Aus dieser Erwartung heraus ist die Irritation zu verstehen, die Österreichs Weigerung, dem Protest gegen Ungarns Notstandsgesetzgebung beizutreten, international hervorrief. Aber schon die mittelalterlichen Markgrafen agierten weniger als Hüter einer universalen Ordnung, als dass sie ihre eigenen Interessen verfolgten. Wie man weiß, taten sie dies über Generationen so hartnäckig, dass aus dem Amtsbezirk eines Markgrafen im Osten Bayerns schließlich ein politisches Gebilde mit eigenen Konturen wurde, das sich von den benachbarten Reichen abgrenzen konnte und musste.

Den langwierigen, gewundenen Prozess der Abgrenzung des zukünftigen Österreich von seinem Umfeld zeichnet Klaus Lohrmann in „Die Babenberger und ihre Nachbarn“ nach. Wobei der Historiker sogleich klarstellt, dass er kein weiteres Buch über die Markgrafen und späteren Landesfürsten vorlegen will, sondern auch deren Gefolge aus Adligen und Dienstmannen in den Blick zu nehmen gedenkt. Denn ohne die Hilfe der Sighardinger, Formbacher und Rapotonen, der Haderiche, Kuenringer und ihresgleichen hätte es die viel später als Babenberger bezeichnete Herrscherdynastie kaum so weit gebracht.

Wie die Babenberger stammten auch deren Gefolgsleute aus Bayern. Diese stellten die Aufgebote, wenn zum Kampf gegen die Nachbarn oder Konkurrenten im eigenen Reich geblasen wurde – was nicht eben selten vorkam. Sie eroberten Landstriche und organisierten die Ausbeutung der Bevölkerung, von deren Arbeit die kriegerischen Herrschaften lebten. Und in ihrem Kreis bildete sich allmählich das Bewusstsein aus, gemeinsam in einem Land zu leben und es zu repräsentieren – ein Bewusstsein, das die Babenberger, die bekanntlich 1246 im Mannesstamm ausstarben, überdauern sollte. Lässt man den Begriff „Ausbeutung“ beiseite, der unter hiesigen Landeshistorikern verpönt zu sein scheint und den auch Lohrmann nirgends verwendet, dann entspricht seine Hochschätzung für die historische Rolle des Adels dem heute gültigen Geschichtsbild, wie es Otto Brunner vorgezeichnet und dann vor allem Max Weltin ausgemalt hat.

Lohrmann gibt seiner Studie die Form einer chronologisch fortschreitenden, minutiösen Diskussion der einschlägigen Quellen. Dabei macht er es seinen Leserinnen und Lesern nicht leicht, weil er bei ihnen offenbar dieselbe profunde Kenntnis der Literatur voraussetzt, über die er selbst verfügt. Außerdem neigt der Autor dazu, seine Aussagen zu verklausulieren. So scheibt er oft, eine Person oder ein Sachverhalt würden in diesem oder jenem Kontext „eine Rolle spielen“ – ohne dass man erfährt, welche Rolle denn genau.

Fehlende schriftliche Zeugnisse #

Diese Vorsicht ist zweifellos dem Wissen des Experten geschuldet, dass wir für das Gebiet „unter der Enns“ vor dem 12. Jahrhundert kaum ergiebige Zeugnisse besitzen. Bevor in Göttweig die Benediktiner einzogen, besaß keine Institution der Gegend eine schriftliche Verwaltung. Nur eine Handvoll Urkunden aus königlichen und bischöflichen Kanzleien haben die Zeiten überdauert sowie die oft wortkargen Aufzeichnungen von Mönchen, die weit weg in Niederbayern oder am Bodensee saßen. Daher wird so manche Frage, über die sich Historiker seit Generationen den Kopf zerbrechen, wohl ewig unbeantwortet bleiben: etwa die, ob eine Tochter der Grafen von Formbach namens Tuta nun mit einem ungarischen König verheiratet war (und wenn ja, mit welchem) oder welche „Stadt an den Grenzen von Böhmen und Bayern“ es war, die Luitpold, „Sohn des bayerischen Markgrafen Adalpert“, anno 1041 „dem Erdboden gleichmachte“, wobei er den Annalen von Niederaltaich zufolge „eine unzählbare Beute an Menschen und Vieh wegführte“.

Weil die schriftlichen Zeugnisse so rar sind wie im Herbst der Anblick der Sonne über dem östlichen Flach- und Hügelland, liegt über dessen Geschichte vor dem 12. Jahrhundert ein Nebel, den man mit herkömmlichem Historiker- Handwerk schwerlich auflösen wird. Umso erhellender hat sich in den letzten Jahren die archäologische Forschung erwiesen. Zum Beispiel haben Ausgrabungen auf dem Oberleiserberg im Weinviertel zutage gefördert, dass hier bis in die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts eine bedeutende Siedlung bestand, deren Bewohner sich in ungarische Tracht kleideten und die weiträumig Handel trieben. Auf Letzteres deuten Münzen ungarischer Prägung und Teile einer Waage hin, wie sie seinerzeit vor allem im Ostseeraum verwendet wurde.

Als die Babenberger im 12. Jahrhundert mit dem Prägen eigener Pfennige begannen, zählten die ungarischen Könige dank reicher Silbervorkommen längst zu den reichsten Monarchen Europas. Wie man auf dem Oberleiserberg sehen kann, strahlte die wirtschaftliche Dynamik ihres Reiches schon früh über dessen Grenzen hinaus. Leider interessiert sich Lohrmanns Studie für die ökonomische Dimension nachbarschaftlichen Handelns ebenso wenig wie für die Resultate der neueren archäologischen Forschung. Beides hätte Chancen für neue Perspektiven geboten. An nebligen Tagen genießt man vom Oberleiserberg mitunter einen erstaunlichen Fernblick.

Buchcover: Die Babenberger und ihre Nachbarn

Die Babenberger und ihre Nachbarn.

Von Klaus Lohrmann

Böhlau 2019

367 S., geb., € 52,–

Die Furche, 8. Oktober 2020