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Viola Rosa Semper, Charlotte Schwarz: Bezaubernde Ziegel#

Bild 'Semper-Schwarz'

Viola Rosa Semper, Charlotte Schwarz: Bezaubernde Ziegel. Backsteinhäuser und Sichtziegelbauten in Wien. Falter Verlag Wien. 256 S., ill., € 29,90

Backsteinhäuser vermutet man eher im Norden Europas als in Wien. Doch der Schein trügt. Die österreichische Bundeshauptstadt verfügt über eine Reihe von Sichtziegelbauten, vor allem aus dem 19. Jahrhundert. Eine Auswahl stellen die Schriftstellerin Viola Rosa Semper und die Fotografin Charlotte Schwarz in ihrem Buch Bezaubernde Ziegel vor. Die charakteristische Handschrift der ausgezeichneten Lichtbildnerin konnte man schon mehrfach in Büchern aus dem Falter Verlag bewundern. 2019 erschien Geheime Pfade , 2021 Faszinierende Wege und bereits 2022 Verlockende Oasen

Die Entdeckungsreise beginnt im Wiener Ziegelmuseum. Es dokumentiert die historischen und zeitgenössischen Ziegeleien auf dem Gebiet der ehemaligen Habsburgermonarchie und erklärt ihre Schutzmarken. Im Bestand befinden sich 13.500 Keramikprodukte (Mauerziegel, Pflasterziegel, Dachziegel …). Eine besondere Rolle in der Wiener Geschichte des Baumaterials spielten die Lehmgruben auf dem Wienerberg. Es gab ausreichend Rohmaterial, und die Triester Straße bot einen perfekten Anschluss an den Wiener Markt. Der erste Pächter war in den 1820er Jahren der Industrielle Alois Miesbach. Sein Neffe Heinrich Drasche machte die Ziegelfabrik zur größten Europas. 1862 produzierte sie 130 Millionen Stück für den Bauboom der Gründerzeit. Drasche war ein sozialer Chef seiner 10.000 ArbeiterInnen. Dies änderte sich jedoch mit der Umwandlung der Firma in eine AG, was vor allem Viktor Adler kritisierte. Die damals verachteten "Ziegelböhm" nannte er "die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint." In den 1970er Jahren wurden die letzten Arbeiterhäuser demoliert. Auf dem Wienerberg entsteht ein neues Stadtviertel, rund um die Firmenzentrale "The Brick".

Die mehr als 60 im Buch vorgestellten Objekte sind geographisch und nach Bautypen gegliedert. Es gibt in Wien ausgesprochene Sichtziegel-Grätzel. Dazu zählen neben dem Arsenal, für das 117 Millionen Ziegel verwendet wurden, u. a. das Fabrikengrätzel Favoriten und das Energiegrätzel Simmering. Dieses ist durch die vier 75 m hohen Gasometer charakterisiert, die 1899 in Betrieb gingen. Nachdem sie ihre Funktion für die Gasversorgung Wiens verloren hatten, stehen sie seit 1978 als Industriedenkmale unter Denkmalschutz. 2001 begann die Revitalisierung. Namhafte Architekten brachten neues Leben in die alten Ziegelmauern. Das Team von Coop Himmelblau setzte mit einem großen Zubau ein Zeichen der Modernität. Nach mehr als 100 Jahren beherbergen die mächtigen Speichenbauten Wohnungen, Geschäfte, eine Veranstaltungshalle und - nicht zu vergessen - das Stadtarchiv.

Die Hochburg des Backsteins bildeten im 19. Jahrhundert Fabriksanlagen und Arbeiterviertel. Dabei nimmt die 1892/93 entstandene Zacherlfabrik in Döbling eine Sonderstellung ein. Sie ist ein seltenes Beispiel eines kommerziell motivierten orientalisierenden Historismus in der europäischen Architektur. Die Sichtziegelfassade und die Dachkuppel sind kunstvoll mit keramischen Fliesen verziert. Vorbilder waren die Schah-Moschee von Isfahan und der ägyptische Pavillon auf der Wiener Weltausstellung von 1873. Johann Zachert bot sein Insektenvernichtungsmittel, dessen Rohstoffe aus dem Kaukasus stammten, als "persisches Pulver" an und hatte bis zum Ersten Weltkrieg damit viel Erfolg. Nachdem Anfang der 2000er Jahren Kunstprojekte in der Zacherlfabrik stattfanden, enthält sie nun Ateliers und Werkstätten.

Unterwegs am Backsteinboulevard beschreibt eine gut einstündige Route durch die City. Sie führt zu neun attraktiven Bauten, vom ehemaligen Ersten Chemischen Institut, über das Palais Hansen-Kempinski am Schottenring, zur Rossauer Kaserne, der Griechenkirche auf dem Fleischmarkt zum MAK und zum ehemaligen "Moulin Rouge". Das älteste Ziegelbauwerk sind Reste der Stadtmauer aus dem 17. Jahrhundert. Die 450 m umfassenden Kasematten wurden perfekt restauriert und sind im Rahmen von Veranstaltungen zu besuchen. Andere Sichtziegelbauten dieser Tour haben die Ringstraßenarchitekten Heinrich Ferstel und Theophil Hansen als Urheber.

Unter dem Titel Sakrale Backsteinbauten und letzte Ruhestätten findet man Gotteshäuser aus allen Bezirken. Zu den prominentesten zählen die Werke des Dombaumeisters Friedrich Schmidt, die Lazaristenkirche und die seit Jahren herabgekommene, jetzt koptisch-orthodoxe "Maria vom Siege". In jüngster Zeit entstanden die katholische Kirche am Schöpfwerk "Zum hl. Franz von Assisi" (1976-1980) und die runde Auferstehung-Christi-Kirche in Kagran. 1972 fertig gestellt, ist sie ein Werk des Architekten Karl Schwanzer. Auch Friedhöfe, wie in St. Marx und Hernals wurden mit Ziegelmauern begrenzt.

Das Kapitel Ziegel für die Öffentlichkeit beschreibt das wohl auffallendste Backsteinbauwerk Wiens, Otto Wagners geniale Stadtbahn. Sie umfasste drei Hauptlinien mit 40 Bahnkilometern und 36 Stationen im Späthistorismus und Jugendstil. Wagner war für Unterbau, Hochbau und alle Details, bis zu den Beleuchtungskörpern zuständig. Die Viadukte wurden aus Backsteinen errichtet und boten damals wie heute Platz für Geschäfte und Restaurants. Sämtliche Anlagen der ehemaligen Stadtbahn stehen heute unter Denkmalschutz. Außer diesem Gesamtkunstwerk entstanden Amtshäuser, wie in der Brigittenau, Infrastruktureinrichtungen und Schulen als Sichtziegelbauten. Zu letzteren zählen das Akademische Gymnasium, die evangelische Schule am Karlsplatz und das ehemalige israelitische Mädchenwaisenhaus in Döbling.

Schließlich finden Vereine, Kunst- und Eventfabriken Raum hinter Ziegelfassaden. Die "Arena Wien" und das Werkstätten- und Kulturhaus, eine ehemalige Lokomotivenfabrik, mussten von ihren Benutzern erst erstritten werden. Hingegen entstand die Kuffner Sternwarte aus privater Initiative. Als Moriz Kuffner 1882 die Ottakringer Brauerei übernahm, erfüllte er sich einen Traum. Am Hang des Gallizinberges ließ er eine Sternwarte bauen, stattete sie großzügig aus und engagierte namhafte Astronomen. Die Kuffner Sternwarte zählt zu den ältesten erhaltenen Observatorien Europas. Der jüngere Kuppelbau beherbergt außerdem das größte Heliometer der Welt. Im Inneren haben sich die originale Möblierung, die alte technische Ausstattung sowie Bibliothek und Archiv …. erhalten, schreibt Viola Rosa Semper.

"Man sieht nur, was man weiß", formulierte Johann Wolfgang von Goethe. Nach der Lektüre dieses anregenden Buches weiß und sieht man viel mehr. Es ist der Autorin zu danken, dass sie Augen öffnet und ein oft unterschätztes Kapitel der Wiener Architekturgeschichte zugänglich macht.

hmw