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Günter Fuhrmann - Gregor Gatscher-Riedl: K. u. k. Sehnsuchtsort Wien#

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Günter Fuhrmann - Gregor Gatscher-Riedl: K. u. k. Sehnsuchtsort Wien Metamorphosen zur Millionenstadt. Kral Verlag Berndorf. 252 S., ill., € 34,90

Bücher über Geschichte sind üblicherweise chronologisch gegliedert. Der Kultur- und Museumsmanager Günter Fuhrmann und der Archivar Gregor Gatscher-Riedl wählten einen anderen, originellen Weg. Die Autoren schreiben: "Dieses Buch möchte anhand mehrerer ausgewählter Fäden des Ideen- und Schicksalsteppichs der Großstadt eine Annäherung und Einordnungshilfe der bis heute nachwirkenden Vergangenheit anbieten und deren tiefe, nicht immer auf den ersten Blick wahrnehmbaren, Spuren in der Stadt nachvollziehen." Sie konzentrieren sich in ihrem reich illustrierten Werk auf die Entwicklung der Großstadt zwischen dem Wiener Kongress und dem Ersten Weltkrieg.

Das erste der zwölf Kapitel beschäftigt sich mit der "Kaiserstadt". Bei der Lektüre wird bewusst, wie viele Anleihen die Habsburger bei antiken Symbolen - angefangen beim Doppeladler - genommen haben. "Die letzte Dynastie in Konstantinopel führte einen zweiköpfigen Adler in ihrem Wappen. … Doppeladler und Kaisertitel verschmolzen mit der habsburgischen Dynastie, überdauerten den Untergang des Heiligen Römischen Reiches 1806, erstanden als Wappentier des österreichischen Kaisertums neu und überdauerten sogar das Ende der Monarchie 1918. Überall grüßt der kaiserliche Vogel mit seinen zwei Häuptern von den Palais, Kirchen und Amtsgebäuden in Mitteleuropa und erinnert an den vergangenen Glanz der Kaiser. Die meisten davon gibt es in Wien, der Haupt- und Residenzstadt, wo bis 1806 ein römischer Kaiser residierte." Die Karlskirche erscheint "wie eine architektonische Zitatsammlung der ewigen Stadt." Für das äußere Burgtor ließ sich der Architekt Pietro Nobile von den Stadttoren des antiken Rom inspirieren. Bei den Plänen für die neue Burg orientierten sich Gottfried Semper und Carl Hasenauer an antiken römischen Kaiserpalästen.

Vor dem Karolinentor entstand Anfang des 19. Jahrhunderts ein neuer "Freiraum für die Wiener". In der Monarchie waren Aufenthalte in Kurbädern modern geworden. Der Versatzamtsliquidator Friedrich Pelikan importierte Mineralwasser aus der tschechischen Region Karlsbad und verkaufte es in seinem Kaffeehaus. "Ganz Wien ging dort hin und aus der bisher eher öden Gegend war das 'Wasserglacis' geworden, ein Hotspot des Biedermeiers." Er verschwand mit der Anlage der Ringstraße zu Gunsten des Stadtparks. Gegenüber entwickelten sich die Blumensäle der Gartenbaugesellschaft, zum Eventlokal. "Intendant Matthias Zauner dominierte das gesellschaftliche Leben nicht nur während der vier Monate Ballsaison von November bis Faschingdienstag. Auch die Ladenarkaden in Richtung der Weihburggasse wie auch der Singerstraße, wurden zum Treffpunkt des eleganten Wiens. … Gleichzeitig mit dem Bau des Gartenbauareals entstand auf der gegenüberliegenden Seite des Rings eine neue Parkanlage. … Der Landschaftsmaler Josef Selleny entwarf einen Garten im Stil englischer Parks mit verschlungenen Wegen und Wasserflächen, der 1862 eröffnet wurde. Die Stadt Wien ließ ab 1865 einen neuen Kursalon im Stil der italienischen Renaissance errichten. … 1868 spielten alle drei Brüder Strauss im großen Saal des Kursalons auf … Rasch wurde nun auch der Kursalon im Stadtpark zu einem Treffpunkt der Gesellschaft." In dieses Kapitel fällt ein Spezialgebiet des Autors, das Coburg'sche Palais auf der Braunbastei. Die wegen ihrer Säulen an der Fassade so genannte Spargelburg ließ sich Ferdinand Georg von Sachsen-Coburg, Bruder des belgischen Königs, Onkel der englischen Queen Viktoria und Schwiegervater der Königin von Portugal, bauen. Seine Heirat mit der ungarischen Magnatentochter Marie Antonie Koháry, der reichsten Erbin der Monarchie, hatte ihn unermesslich wohlhabend gemacht. Dem entsprechend erzählte man sich wahre Wunderdinge über das Palais und seine Besitzer. Günter Fuhrmann hat den Kohàry-Zweig des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha intensiv erforscht.

Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums standen im ausgehenden 19. Jahrhundert viele Menschen, die sich von der Übersiedelung in die Großstadt die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse erhofften. Die Landflüchtigen erlebten aber - nicht nur in Wien - meist "Enttäuschte Sehnsüchte". "Je größer der Glanz von Metropolen, desto tiefer klaffen die Abgründe auf". 1870 hausten 35 % der WienerInnen in winzigen Substandardwohnungen. In New York entstand 1890 das Genre der Sozialreportagen. In Wien rüttelte der Arzt Viktor Adler 1888 die Öffentlichkeit mit Berichten über das Leben der "Sklaven vom Wienerberg" auf. Außerhalb der Betriebsquartiere war das Bettgeherwesen weit verbreitet. Bei den niederen Löhnen der Arbeiter waren 20 % für den Mietzins ein hoher Aufwand. Viele versuchten dies auszugleichen, indem mehrere Personen für jeweils einige Stunden nur ein Bett mieteten. Noch ärmere nächtigten in Kanälen oder Ziegelöfen. Eine erste Hilfe brachte der Vorläufer des kommunalen Wohnbaus der Zwischenkriegszeit: 1895 wurde anlässlich des kommenden 50jährigen Regierungsjubiläums die „Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumsstiftung" zur Erbauung von Volkswohnungen gegründet.

Das sympathisch und professionell gestaltete Buch bietet ein Querschnitt der großen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, darunter etliche, über die man selten liest. Es beschreibt "Neu-Wien", den frühen Städtetourismus, Weinbau, Wien und Amerika, Personentransport, Schatzkammer oder Herrenmode.

Von besonderem Interesse in der beschriebenen Epoche war die Weltausstellung, deren Abhaltung sich 2023 zum 150. Mal jährt. Sie fand im Prater mit der Rotunde als Mittelpunkt statt. Der größte Kuppelbau der Welt war 84 Meter hoch und hatte einen Durchmesser von 108 Metern. Anschließend stand der 960 Meter lange und 205 Meter breite Industriepalast. 53.000 Aussteller aus 44 Nationen hatten sich angesagt. Eine Jury mit fast 1000 Mitgliedern vergab mehr als 25.000 Auszeichnungen an die Mitglieder. Es gab eine Maschinen- und eine Kunsthalle sowie typische Gebäude der Teilnehmerländer. Ein ägyptisches Ensemble war ebenso vorhanden wie ein japanischer Garten. "Die Wiener Weltausstellung von 1873 schuf einen neuen Standard für das Konzept solcher Universalausstellungen. … Als sich am 2. November 1873 die Tore im Prater schlossen, war eine Wehmut zu spüren, dass die Welt Wien wieder verlassen würde."