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Tina Breckwoldt: Ein Chor erobert die Welt#

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Tina Breckwoldt: Ein Chor erobert die Welt. Die Wiener Sängerknaben 1498 bis heute. Böhlau Verlag Wien. 268 S., ill. € 32,-

Die Wiener Sängerknaben haben nicht nur eine lange Tradition, sie sind ein "Mythos", wie Tina Breckwoldt treffend feststellt. Die in Cambridge promovierte Autorin ist bei den Wiener Sängerknaben u. a. für Dramaturgie und PR verantwortlich. Im Buch zum 525-Jahr-Jubiläum des berühmten Chores stellt sie dessen Geschichte im historischen Kontext dar und zeichnet gleichzeitig das Bild einer jungen Institution. Originelle Bilder des auf Musik und Theater spezialisierten Fotografen Lukas Beck ergänzen den Text.

525 Jahre sind kein rundes Jubiläum im herkömmlichen Sinn, doch geht die Geschichte des Knabenchores in der Wiener Hofburg noch weiter zurück. "Die erste Erwähnung einer schola für Knaben stammt aus dem Jahr 1296. Herzog Albrecht I. (um 1255 - 1308) nennt sich fundator capellae castris Viennensis, Gründer der Wiener Burgkapelle." Offiziell gilt Kaiser Maximilian I. (1459-1519), "der letzte Ritter", als Gründer der Sängerknaben. Schon 1486, auf der Reise nach seiner feierlichen Krönung im Aachener Dom waren Sänger in seinem Tross. Zehn Jahre später holte er Sängerknaben in Etappen aus Freiburg und Innsbruck nach Wien. Sie waren ein wichtiger Teil der kaiserlichen Repräsentation, "Maximilians PR-Maschine", wie es die Autorin nennt.

Sein Nachfolger Ferdinand I. (1503-1564) erließ die erste "Kapellordnung". Zehn Knaben sollten bei den Messen in der Hofburgkapelle die Oberstimmen singen. Sie kamen aus Flandern, Frankreich, deutschen Fürstentümern, Italien, Spanien und Österreich. Unter ihnen waren adelige ebenso wie arme Kinder. Maximilian II. (1527-1576), "der heimliche Protestant", förderte Kunst und Wissenschaft, legte den Grundstock zur Nationalbibliothek und ließ das Renaissanceschloss Neugebäude errichten. Am liebsten wäre er Musiker geworden. Ein Zeitgenosse urteilte: "Er besitzt eine Kapelle, die sowohl im Hinblick auf die Zahl, als auch auf die Qualität der Musiker die jedes anderen Fürsten übertrifft. … Er ist außerdem selbst Musiker …" Maximilians weitere Nachfolger bis hin zum "radikalen Reformer" Joseph II. (1741-1790) zeigten mehr oder minder Interesse an dem Chor. Der aufgeklärte Kaiser, der u. a. die Kirchenmusik einschränkte, überlegte dessen Auflösung. Diese erfolgte aber nicht, im Gegenteil: Die Kinder sollten unentgeltlich im Theater und in der Oper auftreten, um die Kosten für Sängerinnen zu sparen.

Immer wieder unterbrechen Exkurse die ebenso wissenschaftlich korrekten wie angenehm lesbaren chronologischen Kapitel. Im ersten Teil sind es "Die Habsburger und das Te Deum", im zweiten Teil "Die Versorgung der Sängerknaben", "Was passiert nach dem Stimmbruch?", "Pietas Austriaca", "Barockoper", "Joseph und Michael Haydn als Sängerknaben" und "Anwerbung von Sängerknaben". Dazu kommt eine Übersicht der Hofkapellmeister des 18. Jahrhunderts.

Der dritte Teil ist den "Hofsängerknaben im österreichischen Kaiserreich" gewidmet. Er beginnt mit dem Stadtkonvikt, das 1803 bis 1848 bestand. Sein berühmtester Zögling, Franz Schubert (1797-1828), war 1808-1813 Hofsängerknabe. Der Direktor bescheinigte ihm "ein besonderes musikalisches Talent". 1809, als Napoleon in Schönbrunn residierte, schlug eine Haubitzgranate in das Konviktsgebäude ein. Angeblich sangen die Kinder unbeirrt weiter. Der Kaiser selbst befahl, "auf die musikalische Bildung des Franz Schubert, da er ein so vorzügliches Talent zur Tonkunst besitzt, besondere Sorgfalt zu verwenden." Zwei Jahre später kritzelte dieser auf ein Notenblatt: "Schubert Franz zum letztenmahl gekräht. Den 26. July 1812". Das zweite Porträt ist Anton Bruckner (1824-1896) gewidmet, Bekannt ist der Ausspruch des Hofkapellmeisters Johann Herbeck: "Er hätte uns prüfen sollen". Anlass war die Abschlussprüfung des 37-jährigen Linzer Domorganisten, der in Wien ein Fernstudium in Komposition absolviert hatte. Ab 1875 oblagen Bruckner der Gesangsunterricht der Wiener Sängerknaben und die Proben für die Sonntagsmessen.

Man erfährt viel Interessantes über den Alltag der musikalischen Kinder: "Aufnahme von Hofsängerknaben", "Zum Vergleich: Aufnahme von Wiener Sängerknaben und Wiener Chormädchen heute", "Vorsingen", "Kleider machen Leute", "Musikunterricht im 19. Jahrhundert", "Musik und Schule", "Transport", "Rüpeleien", "medizinische Versorgung", Ein Interview mit dem künstlerischen Leiter rundet diesen Teil ab. Gerald Wirth sieht den Chor "als eine traditionsreiche Institution, die Kinder und Jugendliche auf hohem Niveau und nicht nur musikalisch ausbildet, eine Institution, deren wirklich einmalige Ausbildung allen offen steht. … hervorragende Chöre von Weltruf, kosmopolitisch, weltoffen, bekannt für ihr Können, ihre Tradition, ihre Musizierfreude, ihren Charme."

Der vierte Teil nennt sich "Die Erfindung der Wiener Sängerknaben". Er behandelt die Ereignisse vom Ende der Monarchie bis zum "Neustart mit Hindernissen". "Das letzte Hochamt als kaiserliches Ensemble findet am 10. November 1918 statt. … In der Hofmusikkapelle herrscht Ungewissheit, ob und wie es weitergehen kann." 1921 übernahm das Ministerium für Inneres und Unterricht die Verwaltung der Burgkapelle. Rektor wurde der Religionslehrer Msgr. Josef Schnitt. 1922 drohte das Ende der musikalischen Aufführungen in der Kapelle. Dramatische Aufrufe prominenter Personen retteten sie. "Rektor Schnitt … stellt sich selbst und alles, was er besitzt, in den Dienst der Sache, die Sängerknaben werden seine Lebensaufgabe." Er gründete und finanzierte auch ein in der Hofburg eingerichtetes Konvikt. "Er lässt die Kinder jetzt überall auftreten, wo sich die Gelegenheit bietet". Sei es mit dem ersten Solo-Auftritt eines Buben in der Staatsoper, sei es bei Konzertreisen, die zunächst nach Westösterreich und in die Schweiz führen. 1927 war der ab jetzt "Wiener Sängerknaben" genannte Chor regelmäßig im Radio zu hören. "Der Name wird zu einem Begriff, einer Marke". Dazu trug auch die Dienstkleidung bei. Die meisten Buben besaßen ihren eigenen Matrosenanzug, der damals Mode war, dazu kam eine blaue Mütze mit Aufschrift. Der Rektor überstand Intrigen und bürokratische Behinderungen Die Knaben sangen auch - unter anderer Leitung - im Dritten Reich. Schnitt, der Hausverbot erhalten hatte, bereitete seine Wiederkehr vor. 1948 brachte eine Nordamerkatournee und die Übersiedlung in das desolate Augartenpalais. Die Tournee-Erlöse halfen bei der Finanzierung der Instandsetzungsarbeiten. "Insgesamt haben sie 111 Konzerte gesungen dabei etwa 50.000 km zurückgelegt und … 250.000 Zuschauer besungen".

Die Reisetätigkeit wurde und wird erfolgreich fortgesetzt. "Mehr als 1000 Tourneen in an die 100 Länder haben die Wiener Sängerknaben seit 1924 absolviert." 1955/56 besuchten sie als erstes Musikensemble aus Westeuropa Japan. Es war "Liebe auf den ersten Ton", schreibt Tina Breckwoldt. "Nach fast 70 Jahren und 33 Tourneen ist Japan für die Sängerknaben inzwischen ein zweites Zuhause. Keiner Tournee fiebern die aktiven Knaben mehr entgegen." Das fünfte Kapitel führt in den Campus Augarten. "Zu den berühmten vier Knabenchören gehören noch der gemischte Kinderchor, der Mädchenchor und der gemischte Jugendchor. Es ist ein ganzer Campus mit einer Musikvolksschule, einer gymnasialen Unterstufe und einer Oberstufe. Insgesamt besuchen fast 300 Mädchen und Jungen die Schulen der Wiener Sängerknaben im Augarten. Über 20 Nationen sind vertreten, neun Religionsgemeinschaften." Seit 20 Jahren besteht das Enemble der Wiener Chormädchen. 2012 wurde am Augartenspitz ein Konzertsaal eröffnet Sein Name "MuTh" steht für Musik und Theater. Er erinnert aber auch an den Mut, den der Chor und seine Verantwortlichen seit mehr als einem halben Jahrtausend an den Tag legen. Als die Wiener Philharmoniker zum Neujahrskonzert 2023 Sängerknaben - und erstmals Chormädchen - einluden, stand die Polka "Heiterer Muth" (mit th) von Josef Strauß auf dem Programm. Ein Zufall ?